GEMS: Geriatrische Notfallversorgung im Fokus
(Bild: Prof. Dr. Christoph Redelsteiner)München (rm) – Die alternde Gesellschaft ist längst Realität – auch im Rettungsdienst.
Bereits heute ist ein Großteil der Notfallpatientinnen und -patienten über 60 Jahre alt, viele über 80-Jährige werden mehrfach jährlich durch den Rettungsdienst versorgt. Die Herausforderungen bei der Versorgung älterer Menschen sind komplex – medizinisch, psychosozial und ethisch. Ein spezielles Fortbildungsprogramm soll genau hier ansetzen: GEMS, kurz für Geriatric Emergency Medical Services, rückt die Besonderheiten geriatrischer Notfälle ins Zentrum und liefert konkrete Handlungsempfehlungen für die Praxis.
Hinter dem Konzept steht ein zertifiziertes Kursprogramm, das ursprünglich von der National Association of Emergency Medical Technicians (NAEMT) in Zusammenarbeit mit der American Geriatrics Society in den USA entwickelt wurde. Mittlerweile wird es auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz angeboten – mit Koordinatoren wie Sven Heiligers vom DBRD und Stefan Westreicher vom Bundesverband Rettungsdienst. Zielgruppe sind insbesondere präklinische Rettungskräfte, Notärztinnen und -ärzte, die im Umgang mit älteren Patienten mehr Sicherheit und Sensibilität gewinnen wollen.
GEMS zeichnet sich durch ganzheitlichen Ansatz aus
Was GEMS von anderen Programmen abhebt, ist der ganzheitliche Ansatz: Die medizinischen Grundlagen stehen ebenso im Fokus wie Kommunikation, psychosoziale Zusammenhänge und ethische Fragestellungen. Altern wird nicht nur als physiologischer Prozess betrachtet, sondern auch als soziale Herausforderung – geprägt durch die Gefahr der Isolation, reduzierte Netzwerke und altersbedingte Einschränkungen, die weit über das rein Körperliche hinausgehen.
Ein zentraler Baustein des Programms ist das sogenannte „Diamant-Modell“. Es hilft, geriatrische Patienten differenziert zu beurteilen – von der Wohnsituation über das soziale Umfeld bis zur Polypharmazie. Gerade Letztere gilt als häufig übersehene Risikofaktor: Bereits bei vier bis sechs gleichzeitig eingenommenen Medikamenten steigt das Risiko für unerwünschte Wirkungen erheblich. GEMS sensibilisiert für Interaktionen, Dosierungsfehler und toxische Nebenwirkungen – ein Wissen, das in der präklinischen Versorgung oft den Unterschied ausmachen kann.
Die Realität zeigt, dass insbesondere bei unfallchirurgischen Notfällen wie Stürzen spezielle Aufmerksamkeit geboten ist. Diagnostik und Versorgung müssen an bestehende Einschränkungen wie Kyphose oder Arthritis angepasst werden. Die Ursachenforschung geht dabei über die reine Unfallanalyse hinaus – GEMS vermittelt Konzepte wie das SPLATT-Schema, mit dem systematisch geprüft wird, ob ein Sturz auf medizinische, psychische oder äußere Faktoren zurückzuführen ist.
Darüber hinaus widmet sich das Fortbildungsprogramm auch Tabuthemen wie Misshandlung und Vernachlässigung älterer Menschen. Es sensibilisiert für verbale Herabwürdigung, Freiheitsentzug oder die oft unsichtbaren Folgen von Überforderung im familiären oder institutionellen Umfeld. Der Kurs bietet Fragenkataloge an, mit deren Hilfe sich Verdachtsmomente in sensibler Weise überprüfen lassen – ein wichtiges Werkzeug für Rettungsfachkräfte, die häufig als Erste Zugang zu vulnerablen Patientengruppen haben.
GEMS beinhaltet auch die Palliativversorgung
Nicht zuletzt hat auch die Palliativversorgung ihren Platz im GEMS-Curriculum. Die Teilnehmenden werden auf Situationen vorbereitet, in denen lebensverlängernde Maßnahmen nicht mehr indiziert oder gewünscht sind. Fragen zu Reanimationsverzicht, Patientenverfügungen oder Sterbebegleitung werden differenziert behandelt – stets im Kontext nationaler Rechtslagen und ethischer Verantwortung.
Ein besonderes Element des Kurses ist die Selbsterfahrung: Teilnehmende schlüpfen mithilfe von Simulationshilfen in die Rolle geriatrischer Patienten. Brillen, Gewichte, Hördämpfer und Mobilitätseinschränkungen machen die Herausforderungen älterer Menschen spürbar. Dieses Erleben fördert Empathie – und führt zu einem sensibleren Umgang im Einsatz.
Dass die Versorgung älterer Menschen kein rein medizinischer Akt ist, sondern eine zivilisatorische Aufgabe, bringt ein Zitat des Soziologen Hans Hovorka auf den Punkt: „Den wahren Zivilisationsgrad einer Gesellschaft erkennt man an ihrem Umgang mit älteren Menschen.“ GEMS ist ein Schritt in Richtung einer solchen Kultur – fundiert, praxisnah und dringend notwendig.
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